Norbert LangeParkplatz Hase und IgelHans im Glück
Wie die Igel-des-Fortschritts den Menschen-Hasen beschleunigen

Es war einmal – gar nicht weit von hier – dort um die Ecke – als hier noch alles Wald war, dass sich Hase und Igel trafen. Und so verschieden sie auch waren: Sie fanden Gefallen aneinander, und begannen gemeinsam den Wald zu durchziehen.
Doch wurde dem Igel das Ständig-Laufen und Immer-Unterwegs-Sein mühsam. Und schlug der Hase einen Haken – autsch – schon war er wieder vor einen Baum gelaufen.
So kamen sie überein, sich bessere Lebensbedingungen zu schaffen: Ein begrenztes Areal für den Igel; Luft und Licht für den Hasen. Und als Zeichen ihrer Freundschaft zogen sie das Ganze als großes Ausdauer-Spiel ohne zeitliche Begrenzung auf. Zugleich sollte der Hase seine Schnelligkeit ausspielen können und der Igel sein Familienleben pflegen, hatte er doch inzwischen Frau und drei Kinder.
„Auf, auf, als Spielfläche roden wir uns einen Hektar Wald.“ – Gesagt, getan – „Und Du, Igel, darfst Dich auf dieser Fläche nach Herzenslust vermehren.“ – „Und Du, Hase, darfst nach Herzenslust zwischen uns Igeln hin und her rasen. Und damit Du uns Igel gut sehen kannst, werden wir Schilder mit unseren Namen hochhalten.“ „Au ja, da sind wir dabei!“ riefen die drei jungen Igel und waren sogleich in der Fläche verschwunden. Und wenig später waren zwischen den Baumstümpfen drei Schilder zu sehen: „Sprache“, „Sesshaftigkeit“ und „Getreide“. „Ja, los geht´s, meine Aufgabe ist es, die Schilder einzusammeln“, rief der Hase und rannte sofort los. „Das ist schön, Mann“, sprach da die Igelfrau, „da können wir nun ganz in Ruhe Kinder-Machen“ …
Und was soll ich Euch sagen, Leute: Die Igel waren fleißig und der Hase war flott. Und jeder und jede, die ihrem Spiel bis heute zugeschaut haben, erzählen die Geschichte anders. Stand auf dem dritten Schild nicht doch „Reis“ oder „Mais“? Und waren es im ersten Spielzug wirklich genau drei Schilder?
Ich kann Euch nur erzählen, was sich mir eingeprägt hat. Baut das in Eure Märchen ein, oder lasst es bleiben! Meine Geschichte geht so:
Die Schilder „Stadt“, „Steuern“ und „Buchstabenschrift“, die der Hase gemächlich einsammelt.
Die Schilderreihe: „Buchreligion“, „Erlösungsreligion“ und „Staatsreligion“, die den Hasen recht flott werden lässt.
Die Zeit, in der keine neuen Schilder mehr auftauchten. Wo waren die Igel abgeblieben und was taten sie? Ich weiß es nicht. Der Hase jedenfalls, nicht dumm, rammte alle Schilder, die er schon mit sich herumtrug, wieder in den Boden und lief solange um sie herum, …
… bis an den Rändern der Spielfläche neue Schilder sichtbar wurden: „Freiheit des Denkens“ und „Gusseisen“. Ihr hättet mal sehen sollen, wie der Hase da geflitzt ist. Und kaum hatte er die eingesammelt – schwupps –
ploppten in der Mitte der Spielfläche auch schon „Papiergeld“ „Kanonen“ und „Buchdruck“ hoch. Heia, war das eine Freude nun dem Hasen zuzusehen.
Und dann – die Spielregeln hatten das nicht vorgesehen, aber der Wald war ja auch nicht gefragt worden, was er von dem Spiel hielt – überschwemmte plötzlich ein tiefer Fluss eine Ecke des Spielfeldes. Sofort hielt ein Igel das Schild „Schwimmen“ hoch, und ehe mir noch klar wurde, was das soll, hatte der Hase sich das Schild geschnappt, war in den Fluss gesprungen und vergrößerte auf der anderen Seite die Spielfläche. Nun ging das Spiel erst richtig los, und ich verlor den Überblick, wann welches Schild wo dem Hasen entgegengehalten wurde: Ich erinnere mich noch an „Bürokratie“ und „Demokratie“, an „Eisenbahn“ und „Besuchserwartungen“, an „Schul-PFLICHT“ und „Gewerbe-FREIHEIT“, „Tages-Zeitung“, „Liebes-Heirat“ und „Frauen-Bildung“. Und da ist der Hase, wie er wie der Blitz von Schild zu Schild rast und sie sich alle auflädt. Einige sichtbar gerne, die meisten zunächst zögerlich.
Ja, natürlich, später habe ich auch die Schilder
„Berufstätigkeit der Frau“, „Auto“, „Panzer“, „Flugzeug“, „Telefon“, „Fernsehen“, „Kunststoff“, „Haushaltsmaschinen“, „Atombombe“, „Tourismus“, „Pille“, „Wechselkursfreigabe“, „Scheidung“, „Bürgerinitiative“
gesehen. Das Bild des Hasen begann dabei langsam vor meinen Augen zu verschwimmen. Im Augenwinkel fiel mir noch etwas anderes auf: Der Hase versuchte auch einige Schilder wieder los zu werden, wie „Straßenbahn“ oder „Spiritualität“. Das glückte ihm allerdings nicht.
Inzwischen kann ich den Hasen nicht mehr sehen. Er ist zu einem wirren Bild von Linien zwischen den ungezählten Schildern zerflossen. Welche das sind? Nun, das muss ich Euch eigentlich nicht erzählen, ihr wisst da mehr als ich, aber sei es drum, hier mein „Schilderwald“:
(Die Sicht eines 48-jährigen Mannes in Kassel, Deutschland, Europa am Freitag, 26. April 2013)
„PC“, „Handy“, „Internet“, „Smartphone“, „Web 2.0“, „Erwartung der ständigen Erreichbarkeit“, „Lebensabschnittsgefährten“, „Männer zu Vätern“, „Wahl der Telefongesellschaft“, „Wahl des Stromversorgers“, „Globalisierung“, „Bio-Lebensmittel“, „E-bike“, „G8/G9“, „EU-Bachelor und -Master“, „Peak-Oil“, „Photovoltaik“, „Inklusion“, „Apps“, „Homo-Ehe“


Wie die Rollen wechseln
„So macht mir das keinen Spaß mehr!“ rief der zerflossene Hase aus und – schwupps – Raum und Zeit klappten weg, er hatte seine Gestalt wieder und ihm gegenüber stand der Igel, sein Freund. „Und, macht es Dir noch Spaß?“ fragte er den Igel. „Jein.“, sagte dieser, „Kinder-machen schon, aber irgendwie ist alles unübersichtlich geworden.“
Ich weiß nicht, wie lange diese Worte im Raum schwangen. Macht ja auch keinen Sinn an einem Nicht-Ort ohne Zeit.
Nackt standen Mensch und Fortschritt sich gegenüber.
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Sie berührten einander.
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„Gerne darfst Du nun der Igel sein“, sprach der Fortschritt, „doch wirst Du allein sein, denn vermehren wie ich, kannst Du Dich nicht.“ – „Und Du wirst als Hase“, ließ sich der Mensch vernehmen, „Deine Urgewalt verlieren“. – „So sei es“, sprachen beide gleichzeitig. Und Raum und Zeit klappten zurück.


Wie der Menschen-Igel den Hasen-des-Fortschritts entschleunigt

„Wo war er bloß?“ fragte sich der Igel. Eben noch war er wie wild hin und her gerannt Schilder einzusammeln. War der Schilderwald noch da? Er musste sich einen Überblick verschaffen. Gesagt, getan, mühsam, mühsam, langsam, langsam den nächstliegenden Baumstumpf erklettert: Ja, da stand er in voller Pracht – Der Schilderwald!
Okay, das wäre geklärt. – Nächste Frage: Was waren die neuen Spielregeln?
Antwort: Es gibt keine! – So ein Mist. Da hatten sie die alten Spielregeln aufgehoben, aber keine neuen vereinbart.
Ah, das hatte Fortschritt ja auch angekündigt: Er war allein. Au, das tat weh. So ohne-Regeln-zu-sein war mehr Allein-Sein als er erwartet hatte.
Da – ein Luftzug – war er doch nicht allein? Was oder wer war das? Ach ja, der Hase war ja weiter in hohem Tempo unterwegs. Ausmachen konnte er ihn allerdings nicht.
„Noch nicht“, dachte er laut. Und siehe da, der Gedanke wurde ihm zum Ziel: „Ich will dem Hasen begegnen.“ – Was für ein Erlebnis; welche Macht ihm zufloss; er setzte die Spielregeln?! Ging da noch mehr? „Auf Augenhöhe will ich ihm begegnen!“ Ja, das war es. – Und damit hatte er auch genug Gebrauch von seiner Macht gemacht. Klar wie nie zuvor konnte er das empfinden!
Sofort stieg das nächste Gefühl in ihm hoch: Angst. Große Angst! EXISTENTIELLE Angst!!! – Das Spielfeld war zu groß! – Ein Igelleben reichte nicht hin, es zu durchmessen, geschweige denn dabei auch noch den Hasen zu treffen. Denn: Der Hase war zu schnell! Nie im Leben würde er ihn einholen können. Es war zum Verzweifeln!!!!!
„Nein“, rief er sich zur Ordnung. Er machte schließlich die Regeln. Und wenn er den Hasen weder finden noch einholen konnte, bedeutete das für die Spielregel, dass der Hase ihn, den Igel zu finden hatte! Ja, das könnte gehen.
Erleichterung durchflutete ihn. Es funktionierte. Wie gut, dass es die „Freiheit des Denkens“ gab! Weiter damit: „Es ging mir um Augenhöhe“, kam ihm in den Sinn. Also brauchte er einen Baumstumpf von Hasen-Nasen-Höhe – eines aufgerichteten Hasen wohlgemerkt.
Und es musste ein Baumstumpf sein, der sich schon jetzt in seinem Sichtfeld befand, damit er ihn auch in angemessener Zeit erreichen konnte.
Es dauerte seine Zeit, bis sich seine Augen auf
Baumstümpfe
eingestellt hatten. Zeit, die ihn dankbar werden ließ, dass es in diesem gigantischen Schilderwald noch Baumstümpfe gab. Denn Schilder zu erklimmen, war jenseits seiner Fähigkeiten, aber Baumstümpfe: Das war machbar.
Aber der war zu niedrig, und der auch, und der und der …
Und da war er: Vielleicht 15 Meter entfernt. Seine Chance, seine einzige Chance. Einen zweiten zu erspähen und aufzusuchen, würde sein Leben auch kaum hergeben. Und auch zwischendurch immer wieder Baumstümpfe erklettern, um die Richtung zu überprüfen, würde er sich kaum erlauben dürfen.
So gab er noch Tage dran, bis er sich mit Hilfe von Sonne und Polarstern über die Richtung einig war: Nordosten.
Der Abstieg vom Baumstumpf war noch mühsamer als der Aufstieg und schmerzhafter: Ohne Verletzung ging das nicht ab.
So manches Buch würden die Abenteuer des Igels auf seinem Weg nach Nordosten füllen. Oft stürmte der Hase in seiner Nähe vorbei, zweimal hätte er ihn fast zertreten. Doch zuckte der Hase im letzten Moment – unbewusst der Stacheln wegen??? – schlug einen Haken und weg war er.
So lang und beschwerlich der Weg war. Es war SEIN Weg. Und so war der Igel glücklich und zufrieden wie nie zuvor, als er schließlich sein erstes Ziel erreichte und oben auf dem Baumstumpf in Aufrechter-Hasen-Nasen-Höhe stand.
Und unter sich sah er klar und deutlich: SEINEN Weg, den Baumstumpf seines Aufbruchs, all die Schilder nah und fern und irgendwo dazwischen: Ja, auch den Hasen sah er klar wie nie zuvor.
Nun hieß es, die Zeit zu nutzen, denn wenn der Hase hier vorbeilief, musste er vorbereitet sein. Wie dann den Hasen aufhalten? Auch das lag jenseits seiner Macht. Also brauchte er nichts zu tun, als aufmerksam zu erwarten, dass der Hase ihm vor die Nase lief. Bei der rasenden Spielfeldabdeckung, die der Hase lieferte, war das zum Glück nur eine Frage der Zeit.
Nun, liebe Leute, schaltet bitte die Zeitlupe ein und stellt Euch zum Igel, damit wir den entscheidenden Moment nicht verpassen:

Der Hase kommt näher und näher.
Da bog er beim letzten Mal ab.
Diesmal kommt er noch näher.
Und noch näher.
Und schlägt einen Haken weg von uns,
aber da steht ihm ein Schild im Weg,
noch ein Haken,
auf uns zu diesmal,
er streift unseren Baumstumpf,
es reißt ihn herum,
unsere Blicke treffen sich,
und da – unglaublich – der Hase teilt sich:
Der eine Hase macht sich davon,
der andere
verharrt einen Augenblick
erkennt den Freund
hebt ihn vom Baumstumpf herunter
und
gemeinsam
setzen sie
ihren Weg
in angemessenem Tempo
fort.


Und wenn sie nicht gestorben sind, sind sie noch heute zusammen unterwegs.

Wieso der Hase sich teilt, fragst Du?
Weil jeder Menschen-Igel nur seinen eigenen Fortschritts-Hasen-Freund entschleunigen kann.


Norbert Lange, 30. April 2013